Die Glockenspielanlage aus dem Jahr 1928

Aus der Nienburger Zeitung vom Dienstag, dem 03. Juli 1928

Die Glockenspielanlage besteht aus 2 Hauptteilen, aus dem Turmuhrwerk und dem Glockenspiel selbst. Dieses wird von der Turmuhr mittags 12 Uhr und abends 18 Uhr ausgelöst.

Foto: M. Bunge 2003

Die Turmuhr ist ein Werk, welches mit allen neuzeitlichen Errungenschaften der Technik und des Zeitmesswesens ausgerüstet ist. Es ist in drei Hauptteile gegliedert: Gehwerk, Viertelstundenschlagwerk und Stundenschlagwerk. Das Gehwerk ist mit Präzisionssekundenpendel und Grahamgang ausgestattet. Von diesem Gehwerk wird nun durch eine entsprechende Hebelanordnung jeweils nach 15 Minuten das Viertelstundenschagwerk betätigt. Dieses ist mit Doppelschlag ausgestattet, indem 2 Schlaghämmer kurz nacheinander erst auf einer Glocke mit höherem und dann auf einer Glocke mit niedrigerem Tone anschlagen. Das Viertelstundenschlagwerk löst nun wiederum nach dem letzten Viertelschlage das Stundenschlagwerk aus. Das ist in seiner ganzen Räderübersetzung ähnlich wie die beiden anderen Werke aufgebaut. Nur fällt diesem Werke noch eine besondere Aufgabe zu, und zwar das Ein- und Ausschalten des selbsttätigen elektromotorischen Aufzuges. Der Handaufzug ist also hier durch die Maschine ersetzt, die in diesem Falle der Elektromotor von 1/8 PS mit 220 Volt ist. Die Betätigung des Aufzuges erfolgt jedesmal nach 6 Stunden, um 3, 9, 15 und 21 Uhr, jeweils wenn der letzte Stundenschlag beendet ist. Durch eine Schneckenwelle, die in drei Schneckenräder der einzelnen Werke eingreift und die durch ein Zahnrad mit dem Elektromotor verbunden ist, wird mit Hilfe eines luftleeren Quecksilberkippschalters bei Aufzug der Gewichte eingeschaltet. Nachdem die Gewichte eine gewisse Höhe erreicht haben, wird der Motor wieder automatisch ausgeschaltet. Sollte in dem Moment, in dem der Motor in Tätigkeit zu treten hat, eine Stromstörung eintreten, so ist für diesen Fall noch eine Gangreserve vorgesehen. Ist eine Störung von längerer Dauer eingetreten, so ist für diesen Fall eine Betätigung des Aufzuges von Hand möglich. Interessant ist bei dieser Einrichtung, wie der Konstrukteur die ungleichen Fallhöhen in den gleichen Zeitintervallen ausgeglichen hat.

Das Gehwerk wird außer der Funktion der Zeitangabe, die durch 2 Zifferblätter mit echter Vergoldung erfolgt, noch eine weitere Aufgabe haben. Diese besteht darin, daß das Glockenspiel eingeschaltet wird. Sämtliche Räder des Werkes sind auf den modernsten Maschinen auf das präziseste gefräst und haben mathematisch genaue Zahneinteilung. Die  …liche Wellen und Triebe sind aus bestem Gußstahl gedreht und nach denselben Grundsätzen wie die Räder gefräst. Die Zähne der Triebe sind außerdem noch poliert, um einen möglichst leichten Gang zu erzielen. Das ganze Werk ist in einem gußeisernen Gestell aufgebaut und auf einen eisernen Uhrstuhl montiert.

2003

Das Glockenspielwerk nun selbst besteht in der Hauptsache aus einer Walze, ähnlich wie bei den Schweizer Musikwerken. Hier allerdings in bedeutend vergrößertem Maße mit ca. 60 cm Durchmesser und ca. 1 m Länge. In dieser Walze sind nun entsprechend den Notensätzen die Stahlstifte eingesetzt, welche die einzelnen Glockenhämmer betätigen. Die Melodien, die mit Hilfe der Walze bis jetzt gespielt werden können, sind: Sei Lob und Ehr‘ . . . Großer Gott, wir loben dich . . . Lobe den Herren . . .  Ich bete an die Macht der Liebe . . .  Abend wird es wieder …  Was frag‘ ich fiel nach Geld und Gut . . . Ich hab‘ mich ergeben . . .  Goldne Abendsonne . . .

Das Werk ist so eingestellt, daß jeweils mittags ein Choral und abends ein Volkslied ertönt. Für die Einweihung selbst sind, auf besonderen Geburtstagswunsch des Stifters die Melodien: Lobe den Herren . . .  und Ich bete an die Macht der Liebe . . . vorgesehen.

Diese Einrichtungen sind die Seele der ganzen Anlage, die allerdings dem Beobachter von außen nicht sichtbar sind. Von außen sind lediglich die Zifferblätter und die Glocken im oberen Teil des Turmes zu sehen. Es sind hier 13 Glocken zur Verwändung gekommen, die ein gesamtes Gewicht von 450 kg haben. Die größte Glocke wiegt etwas über 2 Zentner. Durch entsprechende Transmissionen sind nun die Hämmer der einzelnen Glocken mit dem Glockenspiel verbunden. Die größte Glocke trägt zur Ehrung des hochherzigen Spenders den außerordentlich sinnvollen Spruch:

„Liebe zur Vaterstadt gab uns den Klang.“

Der Turmbau wurde von der Firma Hermann Fischer in Nienburg ausgeführt. Er ist nach den Plänen der Bauverwaltung Bernburg gebaut und paßt sich der ganzen Architektur des Gebäudes derart an, daß man unwillkürlich das Gefühl hat, daß das Gebäude ohne diesen Turm unvollständig wäre. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, und es ist besonders Herrn Reg.- und Baurat Wendler zu danken, daß diese Lösung ermöglicht wurde. Die Anh. Regierung stimmte auf Grund des Entwurfes der Erbauung des Turmes sofort zu. Besonderes Verdienst um die Aufstellung des ganzen Werkes hat sich Herr Bürgermeister Schulz durch sein eifriges Bemühen erworben.

Die Glocken sind in der Störmerschen Gießerei in Erfurt hergestellt und durch den dortigen Domorganisten und Herrn Lehrer Niemann-Nienburg, als Sachberater des Bürgermeisters abgestimmt. Die Anlage des Glockenspiels und der Turmuhr ist in unserer altbekannten Anh. Turmuhrenfabrik von J. J. Fuchs und Sohn-Bernburg von Grund auf konstruiert und gebaut. Es fügt sich als eine ganz bemerkenswerte Leistung unseres heimatlichen Kunsthandwerkes in die Reihe anderer hervorragender Werke dieses Meisters ein, und kann den Ruf der bald 100 jährigen Firma nur noch weiter verbreiten. Es ist eine große Sehenswürdigkeit, da in ganz Mitteldeutschland kein ähnliches Glockenspiel besteht, und es dürfte Nienburg aus diesem Grunde in nächster Zeit das Ziel manches Fremden werden, sodaß der Name des Stifters und des Erbauers wohl noch lange Jahre genannt werden.